Feintuning einer Fabrik: Wie eine Simulations-App eine additive Fertigungsanlage optimiert

Additive Fertigungsprozesse wie die Metallpulverbettfusion ermöglichen eine schnelle und anpassungsfähige Produktion hochwertiger Komponenten. Das britische Manufacturing Technology Centre hat zusammen mit Partnern aus der Luft- und Raumfahrtindustrie eine Anlage für die Pulverbettfusion gebaut und ein Simulationsmodell sowie eine App entwickelt, mit der die Mitarbeiter der Fabrik fundierte Entscheidungen über den Betrieb treffen können.


Von Alan Petrillo
Oktober 2022

Die Geschichtsbücher lehren uns, dass die industrielle Revolution in England Mitte des 18. Jahrhunderts begann. Diese Ära der rußenden Gießereien und Fabriken ist zwar längst vorbei, aber die Fertigung ist nach wie vor essentiell – und bleibt eine Herausforderung. Eine vielversprechende Möglichkeit, die Herausforderungen der modernen Industrie zu meistern, ist der Einsatz von additiven Fertigungsverfahren (AF) wie der Pulverbettfusion und anderen neuen Techniken. Um das Versprechen einer schnellen, präzisen und anpassbaren Produktion einzulösen, erfordert AF mehr als nur eine Umrüstung der Fabrikanlagen, sondern auch neue Ansätze für den Betrieb und das Management der Fabrik.

Abbildung 1. Eine Illustration der Kohleminen und Eisenwerke in der englischen Region West Midlands von 1873. Als eines der ersten industrialisierten Gebiete der Welt wurden Teile dieser Region aufgrund der rußbedeckten Landschaft „the Black Country“ genannt. Bild gemeinfrei über Wikimedia Commons.

Aus diesem Grund hat das britische Manufacturing Technology Centre (MTC) seine hauseigene AF-Anlage mit einem Simulationsmodell und einer App erweitert, um den Mitarbeitern der Fabrik zu helfen, fundierte Entscheidungen über ihren Betrieb zu treffen. Die App, die mit dem Application Builder der COMSOL Multiphysics® Software erstellt wurde, zeigt bereits das Potential der Verknüpfung einer realen AF-Fabrik mit einem sogenannten „digitalen Zwilling“.

„Das Modell hilft dabei, vorherzusagen, wie sich Wärme und Feuchtigkeit in der Pulverbettfusionsanlage auf die Produktqualität und die Sicherheit der Arbeiter auswirken können“, sagt Adam Holloway, Technology Manager im Modellierungsteam des MTC. „In Kombination mit den Daten aus unserer Anlage hilft uns die App, die Vorhersagemodelle in die tägliche Entscheidungsfindung zu integrieren.“ Das MTC-Projekt demonstriert die Vorteile, die sich ergeben, wenn man die Simulation direkt in die Hände der Industriearbeiter legt, und zeigt, wie die Simulation dazu beitragen kann, die Zukunft der Fertigung zu gestalten.

Additive Fertigung für die Luft- und Raumfahrt mit DRAMA

Um modernen britischen Fabriken zu helfen, mit der Welt Schritt zu halten, fördert das MTC die hochwertige Fertigung im gesamten Vereinigten Königreich. Das MTC hat seinen Sitz in der historischen englischen Industriestadt Coventry (Abbildung 2), aber sein Blick ist ausschließlich auf die Zukunft gerichtet. Deshalb hat das Team erhebliche personelle und technische Ressourcen für sein National Centre for Additive Manufacturing (NCAM) bereitgestellt.

Abbildung 2. Der Hauptsitz des Manufacturing Technology Centre in Coventry, England.

„Bei der Einführung der AF geht es nicht nur um die Installation neuer Geräte. Unsere Kunden suchen auch Hilfe bei der Implementierung der digitalen Infrastruktur, die den Betrieb der AF-Fabrik unterstützt“, sagt Holloway. „Neben Unternehmenssoftware und Datenkonnektivität erforschen wir auch, wie sie Simulationen in ihre Systeme einbinden können.“

Das NCAM-Projekt Digital Reconfigurable Additive Manufacturing for Aerospace (DRAMA) bietet einen geeigneten Rahmen für diese Erkundung. Zur DRAMA-Initiative, die in Zusammenarbeit mit zahlreichen Herstellern entwickelt wurde, gehört auch die bereits erwähnte neue Anlage für die Pulverbettfusion. Mit dieser Minifabrik als DRAMA-Bühne spielen Holloway und seine Simulationskollegen eine wichtige Rolle, um die Produktion von AF-Komponenten für die Luft- und Raumfahrt zum Erfolg zu führen.

Von weichem Material zu festen Objekten

Was macht einen Fertigungsprozess „additiv“ und warum erkunden so viele Industrien AF-Methoden? Ein additives Verfahren im weitesten Sinne ist ein Verfahren, bei dem Objekte durch schichtweises Auftragen von Material erzeugt werden, anstatt Material zu entfernen oder umzuformen. Ein reduktives oder subtraktives Verfahren beginnt zum Beispiel mit einem festen Metallblock, der in Form geschnitten oder gebohrt wird. Ein additives Verfahren zur Herstellung desselben Bauteils beginnt dagegen mit leerem Raum. Loses oder weiches Material wird dann (unter sorgfältig kontrollierten Bedingungen) zu diesem Raum hinzugefügt bis die gewünschte Form entstanden ist. Das biegsame Material muss schließlich zu einem beständigen fertigen Bauteil verfestigt werden.

Abbildung 3. Ein Beispiel für ein mit dem Metallpulverbettfusionsverfahren gefertigtes Bauteil.

Verschiedene Materialien erfordern unterschiedliche Methoden zur Erzeugung und Verfestigung additiver Formen. Gängige 3D-Drucker auf dem Verbrauchermarkt stellen beispielsweise Objekte her, indem sie warmes Plastikfilament abspulen, das sich mit sich selbst verbindet und beim Abkühlen aushärtet. Im Gegensatz dazu beginnt das Metallpulverbettfusionsverfahren (Ref. 1), wie der Name schon sagt, mit einem pulverförmigen Metall, das dann durch Wärmezufuhr geschmolzen und beim Abkühlen wieder verfestigt wird. Ein im Pulverbettfusionsverfahren hergestelltes Bauteil ist in Abbildung 3 zu sehen.

Wie Wärme und Feuchtigkeit die Metallpulverbettfusion beeinflussen

„Die Marktchancen von AF-Methoden sind seit langem bekannt, aber es gab viele Hindernisse für eine groß angelegte Einführung“, sagt Holloway. „Einige dieser Hindernisse können während der Entwicklungsphase von Produkten und AF-Anlagen überwunden werden. Andere Probleme, wie zum Beispiel Auswirkungen der Umweltbedingungen auf die AF-Produktion, müssen angegangen werden, während die Anlage in Betrieb ist.“

So ist beispielsweise die sorgfältige Kontrolle von Wärme und Feuchtigkeit eine wesentliche Aufgabe für das DRAMA-Team. „Das Metallpulver, das für das Pulverbettfusionsverfahren (Abbildung 4) verwendet wird, reagiert sehr empfindlich auf äußere Bedingungen“, sagt Holloway. „Das bedeutet, dass es bereits während der Lagerung zu oxidieren beginnen und Feuchtigkeit aus der Umgebung aufnehmen kann, und diese Prozesse setzen sich fort, während es durch die Anlage transportiert wird. Wenn es Wärme und Feuchtigkeit ausgesetzt ist, verändert sich sein Fließverhalten, sein Schmelzverhalten, seine elektrische Ladung und seine Verfestigung“, erklärt er. „All diese Faktoren können sich auf die Qualität der Bauteile auswirken, die Sie produzieren.“

Abbildung 4. Eine mikroskopische Nahansicht der metallenen Pulverkörner, die für die Pulverbettfusion verwendet werden.

Der unvorsichtige Umgang mit Metallpulver ist nicht nur eine Gefahr für die Produktqualität. Er kann auch die Gesundheit und Sicherheit der Arbeiter gefährden. „Das Metallpulver, das für AF-Prozesse verwendet wird, ist brennbar und giftig, und wenn es austrocknet, wird es noch brennbarer“, sagt Holloway. „Wir müssen ständig die Luftfeuchtigkeit messen und kontrollieren, wie sich das lose Pulver in der Anlage ausbreitet.“

Um die richtigen atmosphärischen Bedingungen aufrechtzuerhalten, könnte ein Hersteller die Belüftung seiner Fabrik mit einem vollständigen Klimakontrollsystem ergänzen, aber das könnte unerschwinglich teuer werden. Das NCAM schätzte, dass es fast eine halbe Million englische Pfund kosten würde, seine relativ bescheidene Anlage mit einem Klimasystem auszustatten. Aber was wäre, wenn man Wärme und Feuchtigkeit auch ohne ein solch kompliziertes System angemessen steuern könnte?

Interaktives Prozessmanagement mit Multiphysik-Modellierung

Der Einsatz von Multiphysik-Simulation für ein sorgfältiges Prozessmanagement könnte eine kosteneffiziente Alternative darstellen. „Im Rahmen des DRAMA-Programms haben wir ein Modell unserer Anlage mithilfe der Funktionen für Computergestützte Fluiddynamik (CFD) der COMSOL®-Software erstellt. Unser Modell (Abbildung 5) verwendet die Finite-Elemente-Methode, um partielle Differentialgleichungen zu lösen, die den Wärmetransport und die Fluidströmung im Luftbereich unserer Anlage beschreiben“, sagt Holloway. „So konnten wir untersuchen, wie die Umgebungsbedingungen durch verschiedene Variablen beeinflusst werden, vom Wetter draußen über die Anzahl der in Betrieb befindlichen Maschinen bis hin zur Positionierung der Maschinen in der Fabrikhalle. Ein Modell, das diese Variablen berücksichtigt, hilft dem Fabrikpersonal, die Belüftung und die Produktionspläne anzupassen, um die Bedingungen zu optimieren“, erklärt er.

Abbildung 5. Eine Isoflächengrafik, die die Temperaturschwankungen in der DRAMA-Anlage bei sieben laufenden Maschinen zeigt.
Abbildung 6. Ein Plot der Verteilung der Feuchtigkeitsschwankungen in der DRAMA-Anlage.
Abbildung 7. Ein Slice-Plot, der die Luftstromgeschwindigkeit in der Anlage zeigt.

Eine Simulations-App für das Fabrikpersonal

Das DRAMA-Team hat sein Modell zugänglicher gemacht, indem es mit dem Application Builder von COMSOL Multiphysics® eine Simulations-App dafür erstellt hat (Abbildung 6). „Wir versuchen, die Ergebnisse einiger sehr komplexer Berechnungen einfach und verständlich darzustellen“, erklärt Holloway. „Die Entwicklung einer App aus unserem Modell ermöglicht es den Mitarbeitern, während ihrer täglichen Arbeit Vorhersagesimulationen auf Laptops durchzuführen."

Abbildung 8. Eine Simulations-App der DRAMA-Pulverbettfusionsanlage, die die darin befindlichen Maschinen und die Positionen der Lüftungsöffnungen zeigt. Der Nutzer kann die Ausgangstemperatur und die Luftfeuchtigkeit im gesamten Raum sowie die Einstellungen für das Lüftungssystem, die Beleuchtung und den Metallpulver-Lagerraum festlegen. In diesem Fall wurden einige Türen (rosa hervorgehoben) offengelassen.
Abbildung 9. Der Nutzer kann eine AF-Maschine zum Anlagenmodell hinzufügen, indem er sie aus einem Dropdown-Menü auswählt und dann ihre Position und andere relevante Einstellungen festlegt.
Abbildung 10. Die Simulation kann Schwankungen in der Wärme- und Flüssigkeitsabgabe der Maschinen im Laufe der Zeit erfassen. Diese isothermen Oberflächenplots zeigen die Temperaturänderungen 30 Sekunden (links) und 60 Sekunden (rechts) nach dem Öffnen der Baukammern aller AF-Maschinen in der Anlage.

Der App-Nutzer kann relevante Randbedingungen für den Beginn einer Fabrikschicht festlegen und dann fortlaufend Anpassungen vornehmen. Im Laufe einer Schicht werden Wärme- und Luftfeuchtigkeitswerte unweigerlich schwanken. Möglicherweise sollte das Fabrikpersonal den Produktionsplan ändern, um die Qualität der Bauteile aufrechtzuerhalten, oder vielleicht müssen einfach nur Türen und Fenster geöffnet werden, um die Belüftung zu verbessern. Nutzer können die Einstellungen in der App ändern, um die möglichen Auswirkungen solcher Maßnahmen zu testen. Abbildung 8 zeigt zum Beispiel isotherme Oberflächenplots, die die Auswirkungen des Öffnens der Baukammern der AF-Maschinen auf die Lufttemperatur darstellen, während Abbildung 9 zeigt, wie sich das Öffnen der Werkstüren auf den Luftstrom auswirkt.

Abbildung 11. Eine Schnittdarstellung, die zeigt, wie sich das Öffnen einer Tür auf den Luftstrom auswirkt. Die Luftgeschwindigkeit in Richtung eines Auslasskanals wird erheblich reduziert, wenn die Tür direkt darunter geöffnet wird.

Ein Schritt in Richtung des digitalen Zwillings auf Fabrikebene

Die aktuelle App ist zwar ein wichtiger Schritt nach vorn, aber sie erfordert immer noch die manuelle Eingabe relevanter Daten durch die Mitarbeiter. Mit Blick auf die Zukunft stellt sich das DRAMA-Team etwas Integraleres und damit Leistungsstärkeres vor: Einen „digitalen Zwilling“ für seine AF-Anlage. Ein digitaler Zwilling ist, wie Ed Fontes in einem Beitrag von 2019 im COMSOL Blog (Ref. 2) beschreibt, „eine dynamische, ständig aktualisierte Repräsentation eines realen physischen Produkts, Geräts oder Prozesses.“ Dabei ist wichtig zu beachten, dass selbst das detaillierteste Modell eines Systems nicht unbedingt sein digitaler Zwilling ist.

„Um unser Modell der Fabrikumgebung zu einem digitalen Zwilling zu machen versorgten wir es zunächst mit Live-Daten aus der tatsächlichen Fabrik“, erklärt Holloway. „Sobald unser Fabrikmodell im Hintergrund lief, war es in der Lage, seine Vorhersagen als Reaktion auf die Daten, die es erhielt, anzupassen und auf der Grundlage dieser Vorhersagen bestimmte Aktionen vorzuschlagen."

Abbildung 12. Die integrierte Feedback-Schleife eines Herstellungsverfahrens mit einem digitalen Zwilling, nach der Definition von NCAM.

„Wir wollen unser Vorhersagemodell in eine Feedback-Schleife integrieren, die die eigentliche Fabrik und ihre Mitarbeiter einbezieht. Das Ziel ist ein ganzheitliches System, das auf die aktuellen Bedingungen in der Fabrik reagiert, die Simulation nutzt, um Vorhersagen über die zukünftigen Bedingungen zu treffen, und das auf der Grundlage dieser Vorhersagen nahtlos selbstoptimierende Anpassungen vornimmt“, sagt Holloway. „Dann werden wir wirklich sagen können, dass wir einen digitalen Zwilling unserer Fabrik gebaut haben.“

Simulation am Werk

Als Zwischenschritt zum Aufbau eines vollständigen digitalen Zwillings auf Fabrikebene hat sich die DRAMA-Simulations-App bereits bewährt. „Unsere Produktionspartner wissen vielleicht schon, wie die Modellierung bei der Planung einer AF-Anlage helfen kann, aber sie verstehen nicht wirklich, wie sie beim Betrieb helfen kann“, sagt Holloway. „Wir zeigen, wie wertvoll es ist, wenn ein Arbeiter an der Produktionslinie die App öffnet, ein paar Messwerte eingibt oder Sensordaten importiert und dann schnell eine aussagekräftige Vorhersage darüber erhält, wie sich eine Pulvercharge an diesem Tag verhalten wird.“

Abgesehen von den praktischen Erkenntnissen für die Hersteller bietet das Projekt auch eine weiterreichende Lektion: Durch die Kopplung der Produktionslinie mit einem dynamischen Simulationsmodell hat das DRAMA-Projekt den gesamten Betrieb sicherer, produktiver und effizienter gemacht. Das DRAMA-Team hat dies erreicht, indem es das Modell dort eingesetzt hat, wo es am meisten bewirken kann - in den Händen der Menschen, die in der Fabrikhalle arbeiten.

Abbildung 13. Arbeiter in der NCAM-Metallpulverbettfusionsanlage am MTC.

Referenzen

  1. S. Hendrixson, “AM 101: Powder Bed Fusion,” Jun. 2021; https://www.additivemanufacturing.media/articles/am-101-powder-bed-fusion-pbf
  2. E. Fontes, “Digital Twins: Not Just Hype,” Feb. 2019; https://www.comsol.com/blogs/digital-twins-not-just-hype/